Das multimodale Programm

Multimodale Wirbelsäulentherapie

Die erste Arztaktion

Im Mittelpunkt des multimodalen Programms stehen die Injektionen an der Wirbelsäule. Die mit heftigen Schmerzen einhergehenden Nervenwurzelreizerscheinungen sollten täglich mit einer der wirbelsäulennahen Injektionen durchgeführt werden. Dazu zählen in erster Linie die zervikalen und lumbalen Spinalnervanalgesien, die ein- bis zweimal wöchentlich durch eine epidurale Injektion in der Single-Shot-Methode ersetzt werden. Diese Injektionen sind möglichst morgens in einem speziellen Infiltrationsraum, ggf. im OP vom Hauptbehandler oder seinem Vertreter durchzuführen. Es empfiehlt sich, diese Hauptaktion schon allein deswegen morgens durchzuführen, damit der Patient, der in der Regel Angst vor der Spritze hat am Tagesanfang hinter sich bringt und die übrigen Aktionen des multimodalen Programms psychologisch unbelastet durchführen kann.

Vor jeder wirbelsäulennahen Infiltration überzeugt sich der behandelnde Arzt vom Zustand seines Patienten und lässt sich den Verlauf des vorangegangenen Tages schildern. Bei neurologischen Ausfällen geht jeder weiteren Behandlungsmaßnahme eine Überprüfung der Nervenfunktion voraus. Im Rahmen der ersten Arztaktion wird auch das weitere Vorgehen mit evtl. Variationen im multimodalen Programm und mit Festlegung des Entlassungszeitpunktes besprochen. Die erhobenen Daten aus der neurologischen Untersuchung werden im Krankenblatt vermerkt. Bei uns haben sich sog. Behandlungskarten mit der Diagnose und den bisher durchgeführten Aktionen aus dem multimodalen Programm als übersichtliche Kurzfassung bewährt. Diese Karten tragen die Patienten mit sich und lassen die jeweiligen Aktionen aus dem multimodalen Programm täglich eintragen. Die Behandlungskarte gehört zum Abschluß der Behandlung in das Krankenblatt.

Bei der ersten Arztaktion sollte möglichst eine Schwester oder Arzthelferin assistieren, die auch tagsüber auf der Station ist. Die Anordnungen zum weiteren Vorgehen werden so nicht nur schriftlich fixiert sondern auch unmittelbar von dieser Helferin umgesetzt: Konsilanforderungen, bildgebende Verfahrung, Laborkontrollen, Mitteilungen an die Stationsärzte usw.: Auf diese Weise steht die Schwester bzw. Arzthelferin den Patienten auch tagsüber weiter zur Verfügung.

Die zweite Arztaktion

Im Rahmen der stationären minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie ist neben der täglichen zervikalen oder lumbalen Spinalnervanalgesie bzw. epiduralen Injektion eine zeitversetzte zweite Infiltration vorgesehen. Bei starken im Vordergrund stehenden radikulären Symptomen, ausgehend vom ventralen Ast des Spinalnerven, kann diese Zweitinfiltration in einer weiteren Spinalnervanalgesie bestehen. Zwischen den Injektionen sollte ein Mindestzeitraum von 6 Stunden liegen.
In der Regel gilt die Zweitinfiltration den Sekundärsymptomen außerhalb des Bewegungssegmentes. Zu den Zweitinfiltrationen zählen Injektionen in die Kreuzdarmbeinfugen, Triggerpunktinfiltrationen und Facettenkapselinfiltrationen.

Alternativ erfolg eine Akupunkturbehandlung, wenn der Patient auf diese Therapieform anspricht. Zu den ärztlichen Aktionen im Tagesablauf gehören u.a. auch manualtherapeutische Maßnahmen bei gegebener Indikation.

Die zweite Aktion kann und sollte sogar von einem zweiten Arzt durchgeführt werden, damit der Patient eine zweite Meinung bekommt und ggf. weitere Fragen stellen kann.

Lagerung

Die Nervenwurzel entlastende Lagerung ist neben der wirbelsäulennahen Infiltration die zweite wesentliche therapeutische Maßnahme im Rahmen der stationären Wirbelsäulenbehandlung. Zwischen den einzelnen Behandlungsmaßnahmen nimmt der Patient die entlastende Stufenlagerung ein, bzw. die Glissonextension beim Cervicalsyndrom. Bei verlagertem Bandscheibengewebe mit noch geschlossenem Anulus fibrosus besteht hierdurch eine gute therapeutische Chance zur Rückverlagerung des Gewebes ins Bandscheibenzentrum. An der HWS hat sich hierfür die Glissonextension bewährt, an der LWS der Flexionswürfel.

Das Anpassen dieser orthopädischen Hilfsmittel mit individueller Einstellung erfolgt durch den Arzt in Abhängigkeit vom klinisch-neurologischen Befund. Mit der Glissonextension soll möglichst in die manualmedizinisch ermittelte entlastende Richtung gezogen werden. An der LWS kann die Stufenlagerung mitunter verstärkte Beschwerden hervorrufen, so dass eine entlastende Seitlagerung mit flektierten Hüft- und Kniegelenken besser ist.

Schmerzmedikation

Die stationäre Betreuung der Patienten unter ständiger ärztlicher Aufsicht erlaubt es bei erheblichen Schmerzen auch starke Schmerzmittel der WHO Stufe 3 einzusetzen. Das Ziel der minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie verbunden mit einem Langzeitbewegungsprogramm besteht jedoch darin, ohne oder nur mit geringen Mengen von Schmerz lindernden Medikamenten auszukommen. Die Medikation wird vom Arzt täglich überprüft. In Problemfällen mit erforderlicher Dauerschmerzmedikation wird der Patient in der interdisziplinären Schmerzkonferenz auf eine geeignete Schmerzmedikation eingestellt.

Physiotherapie

Die Physiotherapie unter stationären Bedingungen erlaubt es, Krankengymnastik, Thermotherapie und Elektrotherapie sinnvoll in den Tagesablauf vor allem ergänzend zu den ärztlichen Maßnahmen einzuordnen. Mit zunehmender Beschwerdebesserung folgen der Krankengymnastik mit Übungen aus der Entlastungshaltung, Bewegungsübungen im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie und Einweisung in ein individuelles Sport- und Bewegungsprogramm.

Das BISFR- (Bewegung im schmerzfreien Raum) Konzept geht von der Beobachtung aus, dass Bewegung Schmerzen abbaut. Voraussetzung sind Bewegungen, die den Schmerz nicht verstärken, d.h. die Bewegungen müssen in den Körperabschnitten stattfinden, die vom Schmerzgeschehen nicht betroffen sind. Im Mittelpunkt des BISFR-Programms stehen deswegen dynamische, sog. Gerade-Aus-Sportarten wie Schwimmen, Laufen, Radfahren.

Unter stationären Bedingungen werden die Patienten in erster Linie in das Standradfahren eingewiesen, das in der Regel auch bei stärkeren wirbelsäulenbedingten Schmerzsyndromen keine zusätzlichen Beschwerden verursacht.

Prospektiv randomisierte Studien haben gezeigt, dass bei vertebragenen Beschwerden Bewegung besser ist als Bettruhe (Dietrich 1999, Hildebrand, Pfinsten, 1998). Durch Bewegung mit geeigneter Gymnastik und sportlicher Betätigung wird der venöse Abfluß im Wirbelkanal gefördert; außerdem kommt es durch den regelmäßigen Wechsel zwischen Be- und Entlastung zur besseren Ernährung des Bandscheibengewebes.

Psychotherapie

Psychologen bieten eine zusätzliche Hilfe zur Verminderung andauernder Schmerzen mit einem speziellen Schmerzbewältigungstraining. Dieses Programm beinhaltet Informationen zum Prozess der Schmerzverarbeitung und Übungen zur gezielten Muskelentspannung. Das Training findet täglich nachmittags statt.

Das am besten untersuchte Verfahren zum Training muskulärer Entspannung stammt von Jacobson (1938) und ist mit der Bezeichnung "Progressive Muskelentspannung" bekannt geworden. Es ist ein Verfahren zum schrittweisen Erlernen einer verbesserten willkürlichen Kontrolle der Spannung und Entspannung einzelner Muskelgruppen. Die Übungen können in dem einwöchigen Kurs während der stationären Behandlung erlernt und ambulant weitergeführt werden.

Das 5-10-Tages-Programm der SMIWT

Das Standardprogramm zur stationären Behandlung des zervikalen oder lumbalen Nervenwurzelkompressionssyndrom umfasst eine tägliche minimalinvasive ärztliche Maßnahme in Form einer Spinalnervanalgesie oder epiduralen Injektion.
Diese wird erst dann durchgeführt, wenn nach der Aufnahmeuntersuchung, den Werten aus dem Labor und den ausgewerteten bildgebenden Verfahren die Diagnose feststeht.

Liegen die Daten durch ambulante Voruntersuchungen schon am Aufnahmetag vor, kann noch am Aufnahmetag mit einer minimalinvasiven Maßnahme begonnen werden.

Der Standardtagesablauf sieht an den folgenden Tagen vor, dass nach der wirbelsäulennahen Injektion (CSPA, LSPA, EPI) die Stufenlagerung (StufL) bzw. Glissonextension (Glis) eingenommen wird. Bei der Spinalnervanalgesie ist es die Stufenlagerung, nach epiduralen Injektionen je nach Injektionsart, die Seitlage (SeitL) mit angewinkelten Hüft- und Kniegelenken.

Das weitere Programm wird ergänzt durch Einzelphysiotherapie (PT) mit Thermotherapie (TT), Elektrotherapie (ET) und Krankengymnastik in der Gruppe (GRKG) sowie Haltungs- und Verhaltenstraining im Rahmen der Rückenschule (RÜS). Nachmittags und abends folgt je nach Situation auf der Station die zweite ärztliche Maßnahme mit Triggerpunktinfiltrationen (TP), Facettenkapselinfiltration (FAC), Kreuzdarmbeingelenkinfiltration (ISG) oder Akupunktur (AKU). Wenn die radikuläre Symptomatik mit vorwiegender Beteiligung des Ramus ventralis des Spinalnerven krankheitsbeherrschend ist, kommt als Zweitaktion auch eine weitere Spinalnervanalgesie zervikal oder lumbal in Frage.

Die Aktionen der Psychologen beginnen mit einer Einführung in das Schmerzbewältigungstraining (Einf.Sb) gefolgt von täglichen Übungen zur progressiven Muskelentspannung (PM).

Bei den in der Regel mit starken Schmerzen einhergehenden Wirbelsäulensyndromen ist eine ärztliche Behandlung auch am Samstag, Sonntag und an Feiertagen vorgesehen, nach dem Motto "Bandscheibenschmerzen haben keinen Feiertag". Im Rahmen einer stationären Behandlung ist die Durchführung einer Schmerztherapie mit minimalinvasiven Maßnahmen z. B. durch den diensthabenden Arzt, ohne weiteres möglich. Bei starken Schmerzzuständen kommt auch die zweite ärztliche Aktion zum Tragen.

Abgesehen von diesem Standardablauf bei zervikaler und lumbaler Wurzelkompression gibt es andere Abläufe, die auf das jeweilige Krankheitsbild bzw. auf die spezielle Therapie abgestimmt sind.

Dies gilt für die Serie von epidural-perineuralen Injektionen mit Interleukin-Rezeptor-Antagonisten-Protein (IRAP), für Katheterbehandlungen sowie für die eventuelle intradiskale Diagnostk und Therapie. In speziellen Fällen wird eine Einzelkrankengymnastik bzw. psychologische Einzeltherapie durchgeführt.

Osteoporosefraktur

Eine stationäre minimalinvasive Wirbelsäulentherapie ist auch bei aktivierter Osteoporose mit osteoporotischer Wirbelfraktur möglich. Sobald die Diagnose Osteoporosefraktur feststeht, werden die Patienten sofort mobilisiert und mit wirbelsäulennahen Infiltrationen in die Umgebung des frakturierten Wirbels und durch eine entsprechende Schmerzmedikation, in der Regel mit Opioiden, sowie durch eine sofortige Orthesenversorgung soweit mobilisiert, dass sie ihre hygienischen Verrichtungen im Badezimmer mit Hilfe des Pflegepersonals durchführen können und ihre Mahlzeiten am Tisch einnehmen. Auch bei der aktivierten Osteoporose dauert das stationäre minimalinvasive Programm nicht länger als 10 Tage.

Ambulante Weiterbehandlung

Am Ende des fünf bis zehntägigen stationären Intensivprogramms sind die Patienten zwar nicht beschwerdefrei, in ihrem Schmerzniveau jedoch soweit gebessert, dass eine Operation nicht mehr zur Diskussion steht und die weitere Behandlung ambulant beim Facharzt oder beim Hausarzt erfolgen kann. Die Injektionstherapie ist beendet. Da sich die Steroidkristallsuspension bei den epiduralen Applikationen erst allmählich auflöst und freigesetzt wird, ist nach der Entlassung noch mit einer weiteren Besserung der Beschwerden zu rechnen. Nach Beseitigung der Hauptschmerzen verbleiben meistens Paraesthesien, Reflexabschwächungen und motorische Störungen, die sich nach Wochen und Monaten, bei entsprechendem Training weiter bessern, und in der Regel ganz verschwinden.

Wiederholte stationäre Aufenthalte sind im Konzept der stationären minimal-invasiven Wirbelsäulentherapie nicht vorgesehen. Einmal kommt es beim diskogenen und ossären Wurzelkompressionssyndrom zu einer Spontanremission, die durch das Wegnehmen der Schmerzspitze mit der stationär minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie beschleunigt wird, zum anderen werden die Patienten während des stationären Aufenthaltes in ein Übungs- und Bewegungsprogramm eingewiesen, das nachweisbar (Dietrich 1999) den gebesserten Zustand stabilisiert.

Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen eine erneute stationäre minimalinvasive Wirbelsäulentherapie erforderlich ist:

  • Wenn ein neuer Bandscheibenvorfall bzw. eine Vorwölbung mit Nervenwurzelkompression auftritt
  • Wenn beim Postdiskotomiesyndrom oder Spinalkanalstenose ein erneuter dekompensierter Zustand eintritt.

Bei wiederholter stationärer Behandlungsbedürftigkeit sind jeweils Befund und Operationsindikation erneut zu überprüfen.

Operationsindikation

Nicht alle diskogenen, ossären oder narbigen Nervenwurzelkompressionssyndrome sind mit der stationären minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie soweit zu bessern, dass eine ausreichende Lebensqualität wiederhergestellt ist. Auch ohne das Vorliegen einer absoluten OP-Indikation mit Kaudasymptomen und funktionsbeeinträchtigenden Lähmungen muß in diesen Fällen allein wegen der nicht beherrschbaren Schmerzintensität eine operative Dekompression oder Fusion in Erwägung gezogen werden.

Die Persistenz starker Beschwerden zeichnet sich schon in den ersten Tagen der stationären minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie ab, wenn die Patienten nicht auf die wirbelsäulennahen Infiltrationen ansprechen. Wenn sich z. B. beim großem Prolaps und starken Schmerzen die Beschwerden nicht bessern, ergibt sich die Notwendigkeit einer offenen mikrochirurgischen Bandscheibenoperation. In diesen Fällen sollte auf weitere epidurale Steroidinfiltrationen verzichtet werden, um das Operationsergebnis (Wundheilungsstörungen, nicht verheilende Liquoraustrittsstellen) nicht zu gefährden. Die Entscheidung zur Operation fällt in der Regel nach zwei bis drei Tagen.

Bei der lumbalen Spinalkanalstenose gelingt es in einigen Fällen nicht den Patienten mit der minimalinvasiven Wirbelsäulentherapie und dem begleitenden Bewegungsprogramm aus dem Zustand der Dekompensation zu befreien. Wenn Schmerzen und Beeinträchtigung der Gehstrecke unverändert bleiben, kommt eine offene Mikrodekompressionsoperation in Frage. Bei dieser Operation werden nur die interlaminären, einengenden knöchernen und ligamentären Strukturen über einen ca. 2 cm langen Hautschnitt und unter Verwendung des Operationsmikroskops entfernt. Die früher üblichen breiten Laminektomien, ggf. mit Fusion sind bei der degenerativen Spinalkanalstenose nicht erforderlich.

Die Indikation zur Mikrodekompression bei lumbaler Spinalkanalstenose sollte jedoch erst nach der Entlassung anlässlich eines erneuten ambulanten Untersuchungstermins gestellt werden, da mit einer verspäteten Wirkung der epiduralen Applikationen und der Bewegungstherapie noch gerechnet werden kann.

Postdiskotomiesyndrome stellen die eigentlichen Problemfälle der ambulanten und stationären Behandlung dar. Selbst nach erfolgreicher stationärer minimalinvasiver Wirbelsäulentherapie kommt es immer wieder zur Rezidiven. Wenn ein nicht beherrschbarer radikulärer Narben bedingter Schmerz im Vordergrund steht, kommt eine offen operative Neurolyse mit Fettlappenplastik in Frage. Wenn die instabilitätsbedingten Rückenschmerzen im Vordergrund stehen, wird während der stationären Behandlung der sog. Gipstest, bestehend aus einem Rumpfgips mit Einschluß des betroffenen Beines, durchgeführt, um zu sehen, ob der Patient mit der simulierten Wirbelsäulenversteifung eine Besserung seiner Beschwerden erfährt.

Man muß dem Patienten erläutern, dass sowohl mit der Neurolyse als auch mit der Fusionsoperation nur eine Beschwerdebesserung, jedoch keine Beschwerdebeseitigung erzielt werden kann. Wenn die Patienten nach mehrfacher Voroperation aus verständlichen Gründen jeden weiteren offenen Eingriff ablehnen, verbleibt die ambulante, ggf. in größeren Abständen durchgeführte stationäre Schmerztherapie.