Diagnose Bandscheibenschaden

Nicht selbstverständlich: Die richtige Diagnose

Nur bei wenigen Patienten verläuft die Krankengeschichte glatt

Das beginnt schon mit der nicht einfachen Diagnose des Leidens. Bandscheibenschäden können zu einer Vielzahl unterschiedlicher Rückenschmerzen führen. Quetscht eine Bandscheibe – wie bei Anja Schneider – einen Nerv, entsteht der Schmerz oft an einer ganz anderen Stelle, etwa den Fingern. Ursache für das Problem können auch winzige Risse in den Knorpelscheiden sein. Sie entstehen durch den mit dem Alter unvermeidlichen Wasserverlust. Und weil das Knorpelgewebe fast zwangsläufig dünner wird, scheuern irgendwann auch die rückwärts gelegenen Wirbelgelenke aufeinander.

Um einen Überblick zu bekommen, fertigen viele Orthopäden aus diesem Grund zuerst ein Röntgenbild an. Doch das kann auf die falsche Fährte führen. Denn bei jedem Menschen ab etwa dem 35. Lebensjahr zeigt eine Aufnahme Verschleißerscheinungen am Rücken. Den meisten bereitet das aber keine Probleme. Auf der anderen Seite liegt die Ursache von Schmerzen oft gar nicht an der Stelle, wo das Röntgenbild einen Defekt nachweist. „In 90 Prozent aller Fälle finden wir keine körperliche Ursache für die Rückenschmerzen“, schätzt Dr. Andreas Veihelmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Wirbelsäulentherapie.

In solchen Fällen hilft kein Röntgenbild, sondern nur eine gründliche Untersuchung des Patienten. „Der Arzt sollte genau nachfragen, wann, wie und wo der Schmerz auftritt“, sagt der Bochumer Orthopäde Jürgen Krämer. Anschließend müssen die Reflexe und Bewegungsmuster überprüft werden. „Zu 98 Prozent steht bei mir danach die Diagnose“, behauptet Krämer. Falls nicht, behilft er sich mit einer Aufnahme vom Röntgengerät, mitunter auch einem Computertomografie- oder Kernspinbild.

Bei Lähmungen wird operiert

Drückt bei einem Rückengeplagten die Bandscheibe so stark auf einen Nerv, dass dies zu Lähmungen in den Gliedern führt, der Patient Füße oder Hände nicht mehr richtig bewegen kann, womöglich Störungen im Mastdarm oder in der Blase auftreten, ist eine Operation nötig – und zwar sofort. Dabei entfernen Chirurgen das Bandscheibengewebe, das auf den betroffenen Nerv drückt.

Das sind Ausnahmen. In den meisten Fällen steht als Erstes eine schmerzstillende Therapie auf dem Plan. Dabei spritzen Ärzte entzündungshemmende Substanzen und lokale Betäubungsmittel an den Ort des Vorfalls. Die Methode hat sich nach Meinung der Experten bewährt. Über das Wie streiten sie sich allerdings. Da die Injektion sehr präzise erfolgen muss, empfehlen viele Mediziner, sie unter Bildkontrolle durchzuführen. Damit einher geht eine Belastung mit Röntgenstrahlung. Würde die Behandlung nur einmal erfolgen, wäre das auch für den Orthopäden Theodoros Theodoridis akzeptabel. In der Praxis stehen solche Behandlungen bei einem Bandscheibenvorfall aber bis zu dreimal an, bei wiederholten Vorfällen multipliziert sich die Anzahl. „Deswegen sollten die Schmerzmittel möglichst ohne Strahlenbelastung gegeben werden. Ein erfahrener Orthopäde muss das können“, sagt Theodoridis.

Umstrittene Katheter-Methode

Aufmerksamkeit erregt hat die Racz-Katheter-Methode, entwickelt 1989 von dem US-Amerikaner Gabor Racz. Dabei schiebt ein Arzt in der Nähe des Afters einen Katheter in den Wirbelkanal bis zum Bandscheibenvorfall. Über den Katheter wird das Gewebe drei Tage mit Schmerzmitteln umspült. Einige Studien deuten an, dass diese Methode Vorteile gegenüber herkömmlichen Verfahren hat. „Hände weg von diesem unwirksamen und gefährlichen Verfahren“, warnt dagegen Professor Mario Brock, Direktor der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik an der Berliner Charité. Bei Patienten, die mit dem Racz-Katheter behandelt worden sind, seien Infektionen, Abszesse und sogar Lähmungen dokumentiert.

Bei neun von zehn Patienten hilft die Kombination von Schmerztherapie und Bewegung. Manche Patienten profitieren zusätzlich von Wärmeanwendungen, heißen Bädern und Entspannungstechniken. Aber bei rund fünf Prozent ist die Bandscheibe so unglücklich aufgequollen, verrutscht oder degeneriert, dass als Ausweg nur eine Operation bleibt. Erfolg garantiert allerdings auch diese nicht.

Verwirrende Vielfalt

Als „goldener Standard“ gilt immer noch die chirurgische Entfernung von vorgefallenem Bandscheibengewebe, die Diskotomie (Nukleotomie). Daneben gibt es andere Methoden, das schmerzverursachende Gewebe zu behandeln, zum Beispiel mit Hitze, Enzymen oder Laserlicht. Ob diese Verfahren besser wirken als die Diskotomie, ist wissenschaftlich nicht erwiesen. „Eine Bandscheibenoperation ist kein leichter Eingriff und sollte unter mikroskopischer Kontrolle erfolgen“, mahnt Theodoridis. Er empfiehlt, im Zweifelsfall eine zweite Meinung von einem Orthopäden oder Neurochirurgen einzuholen.

Vor solch einer Entscheidung stand vergangenes Jahr auch Sylke Otto. Trotz Muskeltrainings plagte ein Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule die Profi-Rodlerin – bei ihrer Sportart nicht verwunderlich. Wenn die Athletin auf ihrem Schlitten durch die Kurven des Eiskanals rast, wird ihr Nacken bei Geschwindigkeiten um die 80 Stundenkilometer großen Fliehkräften ausgesetzt. Das hält auch ein gut trainierter Hals irgendwann nicht mehr aus. Ab dem Jahr 2001 blieb das nicht mehr ohne Folgen. „Manchmal war die ganze Schulter steif, ich konnte den Kopf nicht mehr bewegen“, erinnert sich Otto.

Professor Michael Mayer, Ärztlicher Direktor des Orthozentrums München, bot ihr zwei Möglichkeiten an: Einsetzen einer künstlichen Bandscheibe oder Versteifung der betroffenen Wirbelkörper. Letzteres hätte das Ende der Sportlerkarriere für die Rodlerin bedeutet. „Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, entschied ich mich für die künstliche Bandscheibe“, erzählt Otto. Kurze Zeit später setzte ihr Mayer das Implantat zwischen dem 5. und 6. Halswirbel ein.

„Solch ein Eingriff kann eine Belastung der Nachbarwirbel verringern und der Wirbelsäule ihre natürliche Beweglichkeit zurückgeben“, erklärt der Orthopäde. Schon vier Wochen nach der Operation begann die Leistungssportlerin wieder mit dem Training. Schmerzen spürte sie nicht mehr. Ihre Körperhaltung beim Rodeln verbesserte sich merklich – und folglich auch ihre Zeiten im Eiskanal. Den Lohn für den Einsatz erhielt Sylke Otto bei den Olympischen Spielen in Turin 2006: Goldmedaille. Mit 36 Jahren.

Fehlende Langzeiterfahrung

Auf den ersten Blick ein glückliches Ende. Doch ganz ausgestanden ist die Sache noch nicht. Künstliche Bandscheiben setzen Mediziner erst seit einigen Jahren ein. In seltenen Fällen stellen sie bei Kontrolluntersuchungen fest, dass sich die Implantate gelockert haben und es dadurch zu Verschiebungen und Wanderungen kommt. Mitunter übt die Prothese nach hinten Druck auf die Nervenwurzel aus. Dann muss der Chirurg die künstliche Bandscheibe wieder entnehmen und die Wirbelsäule an der Stelle versteifen.

Ob dieses Problem im Lauf der Jahre bei Implantaten gehäuft vorkommt, weiß niemand. Bisher beobachten das die Mediziner nicht. Es fehlt aber die Langzeiterfahrung. Nur etwa die Hälfte der Patienten, bei denen Ärzte eine Operation vorschlagen, eignet sich für den Einsatz der künstlichen Bandscheibe. Zu den Ausschlusskriterien gehören Osteoporose, ein zu enger Wirbelkanal und bestimmte Wirbelsäulenverkrümmungen. Doch so mancher, der für den Eingriff ungeeignet ist, will das nicht wahrhaben. Mayer: „Ich muss genauso vielen Patienten den Einsatz einer künstlichen Bandscheibe ausreden wie zu dem Eingriff raten.“

Erschienen in der Apotheken Umschau